Die neuen Technolgien und ihre curricularen

Konsequenzen

 

Auszug aus: H. T. Thielen: Die Problemkonstellationen der neuen Technologien und ihre

                                           curricularen Konsequenzen.

 

Einleitung


Fortschrittsglaube und das Vertrauen auf Wissenschaft und Technik haben unsere westliche Kul­tur über Jahrhunderte lang entscheidend geprägt. Betrachtet man die wichtigsten technologi­schen Veränderungen in der jüngeren Geschichte, vor allem in der Periode des 19. und 20. Jahrhunderts, so wird man feststellen, daß diese Entwicklungen grundlegende Bestimmungs­faktoren gesellschaftlichen Wandels waren. Sowohl der mechanische Webstuhl als die Elek­trizität, das Automobil oder das Flugzeug, alle diese ‘Jahrhundertent-wicklungen’ haben die Ge­samtheit des gesellschaftlichen Lebens bestimmend verändert. In den letzten 20 Jahren hat der Mikroprozessor und seine Folgetechnologien einen vergleichbaren prägnanten Wandel herbei­geführt.

Wir erleben mit den neuen Technologien[1] gegenwärtig eine Phase tiefgreifender Umwälzungen die sich im beruflichen wie im privaten Alltag, in der Schule und in der Familie gleichermaßen auswirken. Unsere Existenz ist gekennzeichnet durch eine alles umfassende Elektronisierung und Technisierung des Alltags, aller Arbeits- und Lebensbereiche, durch elektronische Medien und ‘Mensch-Maschine Kommunikation’, durch internationale Datennetze und Verbundsysteme und durch die elektronische Steuerung fast aller gesellschaftlicher Systeme. Picot (1986) spricht von ei­nem ‘qualitativen Sprung’[2] im Bezug auf den Übergang von der konventionellen Technik zu der Qualität und Leistungsfähigkeit der neuen Informations-, Kommunikations- und Automationstechniken. Die neuen Technologien sind zu Fakta geworden, die mit ihrem Veränderungsdrang, ihren Stärken und Vorteilen, aber auch ihren Widersprüchen, Spannungen und Konflikten massiv auf die alltäglich erfahrbare Lebenswelt und damit auf das Selbstverständnis des Menschen wirken.

Der tägliche Umgang mit den neuen Errungenschaften von Wissenschaft und Technik und die sich dabei vollziehenden individuellen Anpassungsprozesse zeigen scheinbar einen unkomplizierten und selbstverständlichen Verlauf. Der technische Innovationsdrang führt beispielsweise zur Verringerung von physischer Belastung und Gefahren in der Erwerbsarbeit, zu vehementen Steigerungen der wirtschaftlichen Produktivität, zu Kulturerweiterungen durch Radio, Film und Fernsehen (multi - media), zur Vergrößerung des individuellen Freiheitsraumes u.v.a.m. Diese vordergründig positiven Entwicklungen stellen offensichtlich eine Verbesserung der individuellen Lebensqualität dar.

Unsicherheiten und Probleme treten nach Ebner (1990) erst dann auf, wenn die Lebensgewohnheiten innerhalb einer Generation aufgebrochen werden[3] und wenn latente Veränderungen im sozialen, ökonomischen und ökologischen Rahmen sichtbar wer­den.

Gegenwärtig wird der Fortschrittsmythos in Frage gestellt, da zentrale Momente des Wechselverhältnisses von technischem und gesellschaftlichem Wandel in ihren Konsequenzen problematisch bzw. ambivalent erscheinen. Die Folgewirkungen moderner Forschung und Produktion sind sichtbar geworden, und es werden fundamentale Einschränkungen bei der weiteren Mediatisierung, Automatisierung und Informatisierung gefordert.[4] Beck schreibt dazu: "Die Produktivkräfte haben in der Reflexivität von Modernisierungsprozessen ihre Unschuld verloren. Der Machtgewinn des technisch-ökonomischen ‘Fortschritts’ wird immer mehr überschattet durch die Produktion von Risiken. ... . Im Zentrum stehen Modernisierungsrisiken und -folgen, die sich in irreversiblen Gefährdungen des Lebens von Pflanze, Tier und Mensch niederschlagen. Diese können nicht mehr - wie betriebliche und berufliche Risiken im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - lokal und gruppenspezifisch begrenzt werden, sondern enthalten eine Globalisierungstendenz, die Produktion und Reproduktion ebenso übergreift wie nationalstaatliche Grenzen unterläuft und in diesem Sinne übernationale und klassenunspezifische Globalgefährdungen mit neuartiger sozialer und politischer Dynamik entstehen läßt.“[5] Die immer größer werdenden Möglichkeiten technologischer Machbarkeit und ihrer Auswirkungen steigern überproportional das Problem der Verantwortung, und insgesamt erweist sich der dadurch vermittelte Sozialisationsprozeß - d.h. was den Verlauf und das Ergebnis der menschlichen Biographie anbelangt - als eine überwie­gend fragliche Größe. Wurde die Beherrschung der Natur durch die Technik lange Zeit euphorisch als eine ‘Entwicklung zum Glück der Menschheit’ betrachtet, so mahnt die Realität, wie sie sich heute abzeichnet, eher zur Vorsicht.[6]

Der technisch hervorgerufene Strukturwandel deutet damit auf eine ‘janusköpfige Funktion’ hin. Einerseits erleichtert er das tägliche Leben und erhöht den Lebensstandard, andererseits wirkt er mit nicht überschaubaren sozialen, ökologischen und ökonomischen Folgen auf die Gesellschaft. Aus diesem Gegensatz heraus bildet sich ein Problemzusammenhang der zur Seite der Individuen oder zur Seite der Technik aufgeschlossen werden kann. Er impliziert gleichzeitig Fragestellungen, die in der gegenwärtigen bildungspolitischen Diskussion kontrovers behandelt werden.

Vorwiegend ‘Technikbefürworter’ und Futurologen interpretieren das Verhältnis Technik und Gesellschaft vielfach in der Richtung, wie es Ogburn (1923) in seiner ‘social lag - These’ artikulierte: "Die Technologie ist der vorantreibende, gesellschafts­bestimmende Teil, an den sich die Gesellschaft anpassen muß. Die Probleme ergeben sich da­durch, daß die Gesellschaft diesen Anpassungsprozeß nicht schnell genug vollzieht und so ein ‘social lag’ entsteht"[7]. Technik geht nach dieser Sichtweise immer bahnbrechend voran, und die Ge­sellschaft hat zu folgen. Die strategische Präferenz der Technik resultiert unmittelbar aus der Leitfunktion der neuen Technologien für die Modernisierung der Ökonomie und als Triebkraft für Marktwirtschaft und Wachstum[8]; eventuelle negative Folgen der Technik werden - wenn erforderlich - nachträglich kom­pensiert.

Vom Primat des technischen Fortschritts ausgehend ergeben sich bildungspolitische Ansätze, nach denen die Technik nicht als Herausforderung für Bildung, sondern Bildung als Erfordernis für die Leistungsdisposition der (jungen) Menschen gegenüber den neuen Technologien betrachtet wird.[9] Wir leben in einer technisierten Gesellschaft die einen so hohen Grad an Komplexität und Differenziertheit erreicht hat, daß in vielen Lebensbereichen wissenschaftlich angeleitete und methodisch struk­turierte Lösungen erforderlich sind. Sowohl die Mit­arbeit in den Arbeitsprozessen, deren Struktur durch wissenschaftliche Rationalität bestimmt ist, als auch das Leben in der mediatisierten Alltagswelt setzen ein ‘Alltags-’ und ‘Systemwissen (technisch-instrumentelles Wissen)’ voraus, das es im 19. Jahrhundert noch nicht gab, das sich zu Beginn des 20. Jahrhundert erst entwickelt hat und das heute allgemein gefordert ist. Daraus resultiert die Vorstellung, daß eine Ausweitung des technischen Wissens über eine grundlegende Informatisierung und Computerisierung von Schule und Berufs- und Weiterbildung erfolgen muß[10]. Auf der Grundlage dieses Technik- und Bildungsverständnisses ist der gesellschaftlich angemessene Umgang mit Technik vorrangig eine Frage der technischen Fähigkeiten. Daraus folgernd wird Bildung und Bildungspolitik dem durch die neuen Technologien verursachten Strukturwandel angepaßt und letztendlich unterstellt, daß sich die Bildungssubjekte, die Bildungsmethoden und -inhalte zu ändern haben.

Nach Schmälzle (1992) definiert sich Technik in der Moderne "durch die Summe jener Operationen, durch die sich empirisch beweisen läßt, daß Wünschbares machbar ist. Dabei hat sich gezeigt, daß Machbarkeit die letzte Norm für Technologie und Ökonomie darstellt.“[11] Viele Technikkritiker drehen deshalb die ‘social lag - These’ um und ver­langen, daß die Gesellschaft die Art technischer Innovationen zu bestimmen habe. "Und wich­tiger als ein ‘social lag’ könne ein ‘technical lag’ sein, ein Zurückbleiben der technischen Mög­lichkeiten hinter einem gesellschaftlich definierten Bedarf"[12].

Die Majorität erziehungswissenschaftlicher Diskussion macht derzeit in diesem Sinne darauf aufmerksam, daß zur gesellschaftlichen Beherrschung der neuen Technologien die kritische und verantwortungsbewußte Auseinandersetzung zwingend ist[13]. Baethge (1990) sagt beispielsweise, daß Technik "oft unter dem Prinzip der Sachgesetzlichkeit, der man sich unterzuordnen habe, unter funktionalen Imperativen, die man akzeptieren muß, und unter immanenten Logiken, denen man nicht ausweichen kann“[14] vermittelt wurde. Technologische Vernunft in der Postmoderne darf sich "nicht nur an der Richtigkeit der Mittel orientieren, sondern muß - rückgebunden in gesellschaftliche Verantwortung und die praktische Vernunft des homo sapiens - auch darauf verzichten können, etwas zu machen, das wünschenswert ist“[15]. Damit werden veränderte Einstellungen, Kenntnisse, Fähigkeiten, moralische Qualitäten und ein Bildungswissen für alle relevant, die die kritische Auseinandersetzung mit den neuen Technologien ermöglicht und die Fähigkeit zu verantwortungsbewußter Mitgestaltung gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse beinhaltet.

Technologischer und wissenschaftlicher Fortschritt ist nach dieser Sichtweise auf seine sozialen Auswirkungen zu hinterfragen, und gegebenenfalls zu beschränken bzw. zu blockieren. Aus der gesellschaftlichen Dimension der neuen Technologien resultiert daher auch nicht die Qualifizierungs- sondern die Bildungsfrage. Bildung bleibt von den Subjekten her begründet, und die Aufgabe des Bildungssystems, in puncto neue Technologien, besteht in erster Linie darin, das Problem der Verantwortlichkeit zum Gegenstand von Bildung und Ausbildung zu machen.[16]

In der bildungspolitischen Diskussion stehen sich Gegner und Befürworter der neuen Technologien, in der Spannweite zwischen Qualifikation und Bildung, diametral gegenüber. Zwei dominante Absichten zeichnen sich heraus, die Assel (1988) als eine realistische und eine emanzipatorische Denklinie bezeichnet. Die Realisten treten in der pluralistischen Gesellschaft in der Zeit wachsender Dynamik für Lernfähigkeit, Flexibilität, Funktionalität und Innovationsfähigkeit ein, ohne demokratisches Wertbewußtsein in Frage zu stellen. Sie distanzieren sich von egalitären, utopischen und überhöhten sozialethischen Forderungen, und propagieren mit Vehemenz den technologischen Fortschritt. Die Emanzipationspädagogen neigen zu dichotomischer Gesellschaftsbeurteilung. Sie erkennen die emanzipativen Kapazitäten technischer Entwicklung, kritisieren jedoch die gegenaufklärerische Einstellung und die Blockierung fortschreitender Demokratisierungsprozesse[17], und stehen den neuen Technologien skeptisch, kritisch und warnend gegenüber. Vielfach wird auch ein mittlerer Weg empfohlen "der das Menschliche und das Technische verbindet, so daß schöpferische Freiräume für den einzelnen entstehen, während Routinearbeiten von der Technik bewältigt werden“[18]. Claußen (1988) kommt zu der Schlußfolgerung, daß es einen Konsens über die Zielrichtung nicht geben wird, obwohl ein pädagogischer Handlungsbedarf angesichts der technologischen Herausforderungen evident ist.[19] Es ist zu erwarten, daß sich der Streit um das pädagogische Schulkonzept - ob die Schule Bildungsschule oder Ausbildungsschule ist - in der ‘Informationsgesellschaft’[20] noch verschärfen wird.[21]

 

De facto sind das weitere Vordringen der neuen Technologien in die Privatsphäre der Individuen und weitere markante Veränderungen im Beschäftigungssystem gesellschaftliche Entwicklungen, die sich in den kommenden Jahren verstärkt auf das Bildungswesen auswirken werden.

In der bildungspolitischen Diskussion zeichnen sich für die Verfechter als auch für die Kritiker neue gesellschaftliche Anforderungen an den einzelnen ab, und es herrscht dahingehend Konsens, daß die Thematik ‘neue Technologien’ Inhalt von Bildung und Ausbildung sein muß. Allerdings wird die Frage der pädagogischen Bewältigung bzw. nach dem erstrebten Gesamtziel pädagogischer Bemühungen kontrovers behandelt, obwohl die erziehungswissenschaftliche Diskussion "fast ausnahmslos mit guten Gründen für aufklärungsorientierte und problematisierende, eher technikskeptische als -euphorische Intentionen und Vorgehensweisen plädieren“[22].

Rebel (1991) erkennt aufgrund der jetzt schon vorhandenen überdimensionalen Präsenz der neuen Technologien eine Eigendynamik, die gesellschaftliche Realität darstellt und die nicht mehr zu stoppen ist. "Die Pädagogen werden nicht mehr gefragt, ob ihnen die ‘Neuen Medien’ gefallen oder nicht; welchen Einfluß sie ausüben dürfen und welchen nicht. Lehnen sie die ‘Neuen Medien’ nur ab, werden sie den Siegeszug nicht einmal verlangsamen, geschweige denn aufhalten, aber sich dadurch noch mehr als bisher in eine marginale Rolle in der Gesellschaft hinein begeben, die die Wahrnehmung gerade ihrer entscheidenden Aufgaben noch mehr erschwert, nämlich Kindern zu helfen, erwachsen zu werden, Erwachsenen zu helfen, mündige Menschen zu werden / zu bleiben, und zwar durch Lernen in ihrem Erlebnis-, Erfahrungs-, Handlungs- und Denkraum, auch, indem sie sich mit den ‘Neuen Medien’ als Gegenstand und Instrument auseinandersetzen bzw. sich ihrer bedienen.“[23]

Schmälzle (1991) fordert Konsequenzen für das Lernen in der Schule: "Es ist zu klären, inwieweit und wie die Schule auf gesellschaftlichen und technischen Wandel reagieren soll.“[24] Berger (1991) spricht von Kulturtechniken im Zusammenhang mit den modernen Informations- und Kommunikationstechniken und fordert "das zur Verantwortungsübernahme notwendige Wissen in einem organisierten Kommunikationsprozeß herzustellen...“[25]. Auch Wittwer (1990) erkennt einen pädagogischen Handlungsbedarf, denn "das Leben in der sich wandelnden Welt verlangt vom Menschen andere bzw. neue Qualifikationen, nicht um sich problemlos anpassen zu können oder um die Entwicklung weiter voranzutreiben, sondern um die Veränderungen zu interpretieren, bewerten und aktiv mitgestalten zu können“[26].

Nach Kübler (1991) sind auf dem Feld der informations- und kommunikationstech-n(olog)ischen Bildung derzeit noch keine konkreten Gegenstände und Inhalte des Lernens, keine Lernziele und auch keine angemessenen Methoden erarbeitet worden. Dies begründet sich s.e. in der Dynamik, Komplexität und Unabgrenzbarkeit des Gegenstandsfeldes, in seinen ungewissen Perspektiven, in seinen inkonsistenten, oft latenten, gesellschaftlichen Bedingtheiten und den daraus resultierenden Bewertungen.[27]

Ungeachtet dieser Erschwernisse ist aus erziehungswissenschaftlicher Sicht eine breite Analyse und unvoreingenommene Erörterung des Gegenstandsbereiches ‘neue Technologien’ notwendig, um pädagogische Positionsfindungen und verantwortungsvolle schulische Lernzielsetzungen zu ermöglichen.

 

Die dynamischen Veränderungen vieler Strukturen im Zuge des sozialen und ökonomischen Modernisierungsprozesses fordern Bildungsanstrengungen heraus, mit der heute alle Industriestaaten konfrontiert werden. In immer schnellerer Abfolge wachsen neue Anforderungen an die Individuen, die sich von bekannten und altbewährten Kompetenzen unterscheiden.

Die vorliegende Arbeit soll den durch die neuen Technologien verursachten Strukturwandel nachzeichnen und untersuchen, welche curricularen Konsequenzen sich für die schulische Praxis ergeben. Dabei soll Bildung nicht dem durch Technik induzierten Wandel angepaßt, sondern der Eigenwert der Bildung als Menschenrecht betont und die Interessen und Bedürfnisse der Heranwachsenden in den Mittelpunkt gestellt werden (vgl. auch Kapitel 3). Anschließend werden die Curricula der Sekundarstufe II - sowohl im beruflichen, als auch im allgemeinen Bereich - dahingehend überprüft, ob sie die gesellschaftlichen Veränderungen ausreichend berücksichtigen.

Aus der einleitenden Erörterung läßt sich die Ausgangsfra­gestellung und der gesamte Aufbau der Arbeit ableiten. Ihre sechsfache Unterteilung soll gleichzeitig ein klares Gliederungskonzept für die Hauptabschnitte der Arbeit liefern.

 

 

1.
Wie hat sich die gesellschaftliche Struktur der Bundesrepublik Deutschland im Bereich des
  Beschäftigungssystems und des Alltags aufgrund der neuen Technologien verändert, und
welche Entwicklungen sind diesbezüglich in der nahen Zukunft zu erwarten?
2.
Welche Bedeutung haben Erziehung und Bildung im Kontext der technologischen (gesell-
  schaftlichen) Veränderungen?
3.
Welche curricularen Lernzielsetzungen (Qualifikationen, Kompetenzen und Hal tungen) sind
  erforderlich, um den technologischen (gesellschaftlichen) Entwicklungen gewachsen zu sein?
4.
Werden die gezeichneten Qualifikationen, Kompetenzen und Haltungen in der Sekun-
  darstufe II vermittelt?
5.
Welche didaktischen und methodischen Konsequenzen ergeben sich für den praktischen
  Unterricht?
6.
Welche bildungspolitischen Konsequenzen resultieren aus den Ergebnissen der Untersuchung?

 

Um auf der ‘gesellschaftlichen Realität’ basierend die Differenz zwischen curricularem Anspruch und schulischer Praxis darzustellen, ist es notwendig, die folgenden Rahmenbedingungen als Substrat der Untersuchung festzulegen:

 

-
Unsere Gesellschaft ist zweifellos einem enormen Wandel unterworfen, sie bleibt jedoch auch in
  absehbarer Zukunft eine Arbeitsgesellschaft[28].
-
Es werden keine unberechenbaren gesellschaftlichen Entwicklungsbrüche besondere neue
  Veränderungen bedingen.
-
Es besteht Konsens dahingehend, daß die gesamtgesellschaftliche Funktionsbestimmung des
  Bildungswesens - auch im beruflichen Bereich - nicht primär auf ökonomische Verwertung-
  sinteressen des Beschäftigungssystems, sondern auf anthro- pologische Grundgegebenheiten
  ausgerichtet ist. Bildung darf "nicht zum Sklaven der wirtschaftlichen Entwicklung“[29] gemacht
  werden. Dies schließt eine Verantwortungsethik aller am Bildungsprozeß beteiligten in sich ein.

 

Die Untersuchung erfolgt in vier systematisch aufeinanderfolgenden Schritten (A bis D). Entsprechend den gezeichneten Fragestellungen ist eine weitere Aufgliederung in neun Hauptkapitel durchgeführt worden..

Im ersten Schritt (Teil A, Kapitel 2) wird einleitend die historische technische Entwicklungslinie, im Kontext von Gesellschaft und Politik, beschrieben und die elementare konstituierende Substanz von Technik und Technologie herausgestellt. Im Mittelpunkt dieses Abschnittes steht der gegenwärtige technisch-induzierte Strukturwandel in den zwei großen Sektoren des Beschäftigungssystems und im Bereich des privaten Alltags. In Form einer exemplarischen Sekundäranalyse werden sowohl die wichtigsten technischen Entwicklungen und Veränderungen, als auch die damit verbundenen sozialen Auswirkungen konkretisiert und strukturiert dargestellt. Die kritische Analyse der gegenwärtigen Strukturen läßt zudem Anzeichen auf latente Umwandlungen und entwicklungsbestimmende Tendenzen sichtbar werden. In Verbindung mit Prognosen und Szenarien wird ein mögliches Bild der zukünftigen Gesellschaftsstruktur gezeichnet. Damit wird die gegenwärtige und potentielle, zukünftige gesellschaftliche Konstellation zu einer ersten Randbedingung der Untersuchung.

Für die Intention der Arbeit ist es notwendig, die Diskussion um den Bildungsbegriff mit einzubeziehen. Im zweiten Schritt (Teil B, Kapitel 3), ‘Erziehung und Bildung in der Gegenwart’, wird, unter Anlegung der angegebenen Maßstäbe, ein Exkurs über Bildungstheorien, und im besonderen über Erziehungsziele in der technisierten Gesellschaft, gegeben. Dabei stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der gesellschaftlich-technischen Umwandlungen zum Konzept der ‘Allgemeinbildung/Berufsbildung’. Aufgrund des Themenschwerpunktes ‘neue Technologien’ steht das Verhältnis berufliche Bildung/allgemeine Bildung im Vordergrund der Betrachtung.

Die weitreichenden technischen Umwandlungen implizieren spezifische gesellschaftliche Auswirkungen, die wiederum neue Anforderungen, Qualifikationen und Kompetenzen von den Individuen erfordern. In Kapitel 4 werden entsprechende konkrete Lernzielvorstellungen, Qualifikationen, Kompetenzen und Haltungen, im Kontext mit den Intentionen von Bildung und Erziehung in der Gegenwart und dem gesellschaftlichen Strukturwandel deduktiv herausgearbeitet. Die zentrale Aussage der Untersuchung, daß nicht ein Mehr an Spezialwissen, sondern grundlegende politisch-emanzipatorische und soziale Kompetenzen, sowohl für die berufliche als auch die allgemeine Bildung, für den kritischen und problembewußten Umgang mit den neuen Technologien erforderlich sind, deutet auf die brisante politische Dimension der neuen Technologien hin.

In der sich anschließenden empirischen Untersuchung werden die Curricula der Sekundarstufe II exemplarisch am Beispiel der gymnasialen Oberstufe (allgemeine Bildung) und des Industrieberufes Industriemechaniker, Fachrichtung Betriebstechnik (berufliche Bildung) dahingehend untersucht, ob sie inhaltlich prädestiniert sind, die geforderten Haltungen, Qualifikationen und Kompetenzen zu vermitteln. Der Gegenstandsbereich umfaßt die zentralen Institutionen der Sekundarstufe II, da hier die Majorität aller Heranwachsenden tangiert wird. In Kapitel 5 werden der Aufbau und die Methoden des empirischen Teils sowie die Gegenstände der Untersuchungen dargelegt und deren Auswahl begründet. Die Gegenstände der empirischen Untersuchung sind:

           

-
der Ausbildungsrahmenplan,
-
die länderspezifischen Lehrpläne des Landes Rheinland-Pfalz für die Berufsschule, Industriemechaniker,
  Fachrichtung Betriebstechnik,
-
die länderspezifischen Lehrpläne der gymnasialen Oberstufe (Mainzer Studienstufe).

 

Als wissenschaftliche Forschungsmethode dient die ‘qualitative Inhaltsanalyse’.

In Kapitel 6 folgen Planung, Durchführung und Darstellung der Analyse. Die zusammenfassende Ausführung der Ergebnisse der Untersuchung wird zur zweiten Randbedingung der Untersuchung und schließt den empirischen Teil ab.

In Teil D erfolgt die Identifizierung der bildungstechnischen Situation mit den Theorien der Qualifikationsprofile und Kompetenzen. Die Ergebnisse der empirischen Analyse (Kapitel 7) machen deutlich, daß - im Verhältnis der gegenwärtigen und zukünftigen Bedeutung der neuen Technologien - ein erheblicher Mangel an entsprechenden umfassenden Lerninhalten, sowohl in der beruflichen als auch in der allgemeinen Bildung, existent ist.

Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung, im Kontext mit den notwendigen Qualifikationen und Kompetenzen, dienen als Diskussionsgrundlage für mögliche Schlußfolgerungen. In Kapitel 8 werden adäquate didaktische und methodische Konsequenzen für den konkreten Unterricht abgeleitet, die eine hinreichende Aufbereitung der Problematik ‘neue Technologien’ ermöglichen. Dies führt zusammenfassend zu der bildungspolitischen Konsequenz (Kapitel 9) , die berufliche Erstausbildung nicht an den traditionellen Berufen, sondern an der allgemeinen Bildung, im Sinne einer kritischen, emanzipatorischen und selbstbestimmten Handlungsfähigkeit, zu orientieren.

Die gesellschaftliche Brisanz des Mikrochips entsteht durch seine Einbindung in ein vernetztes System von Informations-, Kommunikations- und Steuerungstechnologien, die nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch im Privathaushalt, in der täglichen Versorgung, bei den öffentli­chen Ämtern, im Militärwesen, in der Medizin usw. zunehmend an Bedeutung gewinnen. Es gilt den Mikrochip und seine Folgetechnologien, in ihrer Bedeutung für das Bildungssystem, zu untersuchen.

  

Der Verfasser unterrichtet seit 1981 an unterschiedlichen berufsbildenden Schulformen[59] in Hessen bzw. Rheinland-Pfalz und konnte dabei einen hinreichenden Überblick über Prüfungsanforderungen, Lehrpläne und Fachliteratur in der beruflichen Bildung gewinnen. Durch die intensive Beschäftigung mit dem vorgenannten Problemfeld verstärkte sich die Auffassung, daß, von einem Bildungsbegriff in der Tradition von Aufklärung als Menschenrecht ausgehend, erhebliche curriculare Defizite in der gegenwärtigen Berufsausbildung vorzufinden sind.

Auffallend ist der Sachverhalt, daß in allen Schulformen die berufsbezogenen Inhalte als Qualifizierungspostulat absolute Priorität besitzen und das Bewußtsein für humane Werte, für Verantwortungsbewußtsein und Selbstbestimmung, nur rudimentär in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern (Sozialkunde / Politik), oder im pädagogischen Freiraum des einzelnen Lehrers, thematisiert wird.

Einen weiteren Kritikpunkt sieht der Verfasser in den fehlenden curricularen Prinzipien ökologischer Bildung und Kompetenzen. Technik, ihre Durchsetzung und Machbarkeit, steht im Vordergrund berufsschulischen Unterrichts, und eine vorbeugende Technikfolgenabschätzung, durch die Begründung einer verantwortlichen Einstellung und Haltung, findet curricular keine Relevanz.

Durch die Dynamik technischer Innovationen und Neuentwicklungen verändern und summieren sich insbesondere die fachbezogenen Lerninhalte zu einem völlig überfrachteten Lehrplangefüge. Für den Lehrer in der Praxis, der auch unter der Verantwortung und dem Sachzwang steht, den Schüler auf eine Abschlußprüfung vorzubereiten[60], ist es nicht möglich, alle erforderlichen Lerninhalte in einem Unterricht zu vermitteln, der den lernorganisatorischen Prinzipien der Schülerorientierung, der Handlungsorientierung, der Problemorientierung, der Anwendungsorientierung und der Gesellschaftsorientierung genügen soll.

 

-
Die neuen Technologien haben das Beschäftigungssystem und den Alltag des Menschen fundamental
  verändert, so daß in erster Linie emanzipatorische Einstellungen, Haltungen und Kompetenzen der
  Individuen als notwendig erscheinen.
-
In den Curricula der beruflichen als auch der allgemeinen Bildung (Sekundarstufe II) hat die Thematik
  neue Technologien’ nur eine untergeordnete Relevanz.
-
In der beruflichen und allgemeinen Bildung (Sekundarstufe II) tendiert das Verhältnis von technischem
  Strukturwandel und Bildung zur Seite der Technik hin; die Thematik ‘neue Technologien’ hat eine
  unmittelbar technische Funktion.
-
In den Curricula der allgemeinen Bildung (Sekundarstufe II) haben technische Inhalte eine unterge-
  ordnete und emanzipatorische Inhalte eine übergeordnete Relevanz.
-
In den Curricula der beruflichen Bildung (Duales System) haben soziale und emanzipatorische Inhalte
  eine untergeordnete und technische Inhalte eine übergeordnete Gewichtung.
-
Durch die unzureichende Berücksichtigung und Aufbereitung der Thematik ‘neue Technologien’ in der
  Sekundarstufe II ist eine verantwortungsbewußte selbstbestimmte Handlungskompetenz, im Umgang
  mit den neuen Technologien, in Frage gestellt.

 

[1] Mit dem Begriff ‘Neue Technologien’ werden die neuen Techniken der Information, Kommunikation und Automation beschrieben, die auf den Leistungen der Mikroelektronik und des Computers aufbauen. Der Terminus stützt sich auf die erweiterte Definition des Begriffs ‘Neue Medien’ von Ratzke, der alle Verfahren und Mittel (Medien) einschließt, „die mit Hilfe neuer oder erneuerter Technologien neuartige, also in dieser Art bisher nicht gebräuchliche Formen von Informationserfassung und Informationsverarbeitung, Informationsspeicherung, Informationsübermittlung und Informationsabruf ermöglichen“ (Ratzke 1984, S. 16), vgl. auch Abb. A1.

[2] vgl. Picot 1986, S. 74.

[3] vgl. Ebner 1990, S. 121.

[4] vgl. z.B. Anders 1986; Jonas 1984; Eurich 1985; v. Recum 1985; Beck 1986, 1988; Kubiczek 1986.

[5] Beck 1986, S. 17 f.

[6] vgl. Böhr 1985, S. 15.

[7] Ogburn 1923.

[8] Kubiczek/Rolf weisen auf den ‘nationalen Konsens’ hin, der das Einvernehmen über die anzustrebenden Wachstumsziele als auch die dafür zweckmäßig erachteten Mittel einschließt (vgl. Kubicek/Rolf 1986,        S. 77).

[9] vgl. Sinhart-Pallin 1991, S. 43.

[10] vgl. z.B. Bade 1985; Haefner 1982, 1984, 1985; Schweitzer 1986.

[11] Schmälzle 1992, S. 46.

[12] Ullrich 1980, S. 33.

[13] vgl. z.B. Assel 1988; Baethge 1990; Claußen 1987; Hentig, v. 1985; Rauter 1986; Schmälzle 1992.

[14] Baethge 1990, S. 60.

[15] ebda. 1992, S. 46.

[16] vgl. z.B. Claußen 1988, Weizenbaum 1984, Volpert 1985.

[17] Assel 1988, S. 146.

[18] ebda. 1988, S. 146.

[19] vgl. Claußen 1988, S. 204.

[20] Kubiczek 1986.

[21] Weidenmann/Krapp 1989, S. 622.

[22] Claußen 1988, S. 204.

[23] Rebel 1991, S. 95.

[24] Schmälzle 1991, S. 43.

[25] Berger 1991, S. 24 ff.

[26] Wittwer 1990, S. 8; vgl. auch Anders 1986, S. 5.

[27] vgl. Kübler 1991, S. 70.

[28] In der wissenschaftlichen Diskussion ist es nicht mehr selbstverständlich, daß die Erwerbsarbeit noch das     alleinige und dominante dynamische Zentrum der spätbürgerlichen Gesellschaft ist (vgl. Baethge 1990,    S. 49 f.).

[29] Ebert 1989, S. 53.

[30] Mit dem Begriff ‘Neue Technologien’ werden die neuen Techniken der Information, Kommunikation und Automation beschrieben, die auf den Leistungen der Mikroelektronik und des Computers aufbauen. Der Terminus stützt sich auf die erweiterte Definition des Begriffs ‘Neue Medien’ von Ratzke, der alle Verfahren und Mittel (Medien) einschließt, „die mit Hilfe neuer oder erneuerter Technologien neuartige, also in dieser Art bisher nicht gebräuchliche Formen von Informationserfassung und Informationsverarbeitung, Informationsspeicherung, Informationsübermittlung und Informationsabruf ermöglichen“ (Ratzke 1984, S. 16), vgl. auch Abb. A1.

[31] vgl. Picot 1986, S. 74.

[32] vgl. Ebner 1990, S. 121.

[33] vgl. z.B. Anders 1986; Jonas 1984; Eurich 1985; v. Recum 1985; Beck 1986, 1988; Kubiczek 1986.

[34] Beck 1986, S. 17 f.

[35] vgl. Böhr 1985, S. 15.

[36] Ogburn 1923.

[37] Kubiczek/Rolf weisen auf den ‘nationalen Konsens’ hin, der das Einvernehmen über die anzustrebenden Wachstumsziele als auch die dafür zweckmäßig erachteten Mittel einschließt (vgl. Kubicek/Rolf 1986,        S. 77).

[38] vgl. Sinhart-Pallin 1991, S. 43.

[39] vgl. z.B. Bade 1985; Haefner 1982, 1984, 1985; Schweitzer 1986.

[40] Schmälzle 1992, S. 46.

[41] Ullrich 1980, S. 33.

[42] vgl. z.B. Assel 1988; Baethge 1990; Claußen 1987; Hentig, v. 1985; Rauter 1986; Schmälzle 1992.

[43] Baethge 1990, S. 60.

[44] ebda. 1992, S. 46.

[45] vgl. z.B. Claußen 1988, Weizenbaum 1984, Volpert 1985.

[46] Assel 1988, S. 146.

[47] ebda. 1988, S. 146.

[48] vgl. Claußen 1988, S. 204.

[49] Kubiczek 1986.

[50] Weidenmann/Krapp 1989, S. 622.

[51] Claußen 1988, S. 204.

[52] Rebel 1991, S. 95.

[53] Schmälzle 1991, S. 43.

[54] Berger 1991, S. 24 ff.

[55] Wittwer 1990, S. 8; vgl. auch Anders 1986, S. 5.

[56] vgl. Kübler 1991, S. 70.

[57] In der wissenschaftlichen Diskussion ist es nicht mehr selbstverständlich, daß die Erwerbsarbeit noch das     alleinige und dominante dynamische Zentrum der spätbürgerlichen Gesellschaft ist (vgl. Baethge 1990,      S. 49 f.).

[58] Ebert 1989, S. 53.

[59] Berufsschulen, Berufsaufbauschulen, Fachoberschulen, berufliches Gymnasium und Fachschulen.

[60] Für die industriellen Berufe werden z.B. überregionale Prüfungen von der Industrie- und Handelskammer erstellt.